Nikolaus von Kues: An der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit

Nikolaus von Kues: An der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit
Nikolaus von Kues: An der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit
 
Am Ausgang des Mittelalters war die Theologie in zahlreiche Schulen zerfallen, in denen die Erinnerung an vergangene Größen wie Albertus Magnus und Thomas von Aquino am Leben gehalten wurde und die in ihren Lehrmeinungen hoffnungslos zerstritten waren. Der französische Theologe Jean de Gerson (* 1363, ✝ 1429) machte sogar den Vorschlag, allgemein Anerkanntes zu kanonisieren und neue Denkansätze zu unterbinden. Nur wenige erhoben sich aus dieser Mittelmäßigkeit der Zeit, wie der Kirchenpolitiker und Philosoph Nikolaus von Kues (* 1401, ✝ 1464).
 
Er kam dem Renaissanceideal des Universalgelehrten außerordentlich nahe: Er pflegte Bekanntschaften zu den italienischen Humanisten, zu Traversari, zu Bessarion und zu Toscanelli, der am Bau der Domkuppel von Florenz beteiligt war. Er entwarf eine neue Methodik naturwissenschaftlicher Forschung und stellte Überlegungen zur Kalenderreform und Drehung der Erdachse an. Er beschäftigte sich intensiv mit Mathematik, besonders der Quadratur des Kreises, verbesserte den Näherungswert für die Zahl Pi und erarbeitete in seiner Schrift »Perfectio mathematica« Grundzüge der Infinitesimalrechnung. Er machte sich als einer der ersten deutschen Humanisten an das philologische Studium antiker Handschriften und erwies die Konstantinische Schenkung als Fälschung. In seiner Eigenschaft als Kardinal und Fürstbischof von Brixen (1450) widmete er sich der Einheit und Reform in Kirche und Reich und nahm am Konzil von Basel (1432) und Florenz (1439) ebenso teil wie am Wiener Konkordat zwischen Kurie und Friedrich III. (1446). Der Fall Konstantinopels 1453 lenkte sein Augenmerk auf den Islam, die anderen Religionen und das interreligiöse Gespräch. Seine von Lessing rezipierte Schrift »Vom Frieden im Glauben« vereint Vertreter unterschiedlicher Religionen in einem fiktiven Religionsdisput, der alle Glaubensrichtungen schließlich auf eine einzige Religion mit unterschiedlichen Riten zurückführt.
 
Die Welt stellt sich ihm dar als eine Ansammlung endlicher und gegensätzlicher Dinge, sie ist geprägt vom Anderssein (aliud esse). Der menschliche Verstand bemüht sich nun, diese Wirklichkeit zu strukturieren, indem er Bekanntes mit Unbekanntem vergleicht, Ähnlichkeiten findet und Analogien bildet, aus denen er dann Begriffe ableitet. Trotzdem - und hier erweist er sich als Erkenntnispessimist - gelangt er letztlich zwangsläufig nur zur Erkenntnis seiner Unkenntnis; er befindet sich im Zustand gelehrter Unwissenheit (docta ignorantia).
 
Die Einheit in dieser Vielfalt der Welt wird gewährleistet durch Gott, in dem alle Gegensätze zusammenfallen (coincidentia oppositorum). Die Welt kann Gott also nicht gegenüberstehen, sie ist Entfaltung Gottes. Während in der Welt in der Regel alles, was ist, hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt, ist Gott alles, was er sein kann, er ist die Vollendung seiner Möglichkeiten, das »possest« (Können-Sein). Durch seine Ebenbildlichkeit hat der Mensch Anteil am Göttlichen, seine Zerrissenheit spiegelt die Welt: Sein Geist ist Bild des göttlichen Geistes; wie Gott die Welt in seinem Denken hervorbringt, schafft der Mensch ein Abbild der Welt, indem er sie in Begriffe zu fassen sucht.
 
Eine Sonderstellung im Erkenntnisprozess nimmt für Nikolaus von Kues die Mathematik ein; als Konstrukt des menschlichen Geistes können mathematische Formen erkannt werden, wie sie wirklich sind. Daher macht sich Nikolaus mathematische Denkweisen, Verfahren und Begriffe häufig zunutze, um theologisch-philosophische Sachverhalte zu beschreiben.
 
Nikolaus von Kues wandte sich massiv gegen die von Aristoteles geprägte Spätscholastik. In den Vorwürfen seiner Gegner, insbesondere des Heidelberger Professors Johannes Wenck (✝ 1460), wird die Tragweite seiner Gedanken deutlich: Man wirft ihm vor, Glauben und Wissenschaft gleichermaßen zu zerstören und den Unterschied zwischen Gott und Welt zu verwischen. Wie Kurt Flasch schreibt, sei sein Gott »ein bestimmungsloses Unendliches, bei dem keine Unterscheidung nach Personen möglich war.« Nikolaus verfasste seine Erwiderung auf diese Vorwürfe erst mit mehrjähriger Verspätung aus der Sicherheit heraus, die er der Rückendeckung eines ihm gewogenen Humanistenpapstes verdankte. In seinem Denken zeigt er sich beeinflusst von Neuplatonismus und Mystik, die er in der Vermittlung durch Johannes Scotus Eriugena und Meister Eckhart kennen lernte. Er verhalf den christlichen Neuplatonikern wie Thierry von Chartres oder David von Dinant, denen der Ruf des Pantheismus vorauseilte, zu neuer Geltung.
 
Mit seiner Kritik an der veralteten scholastischen Methode und seiner neuartigen Wissenschaftlichkeit steht Nikolaus von Kues geistig längst am Übergang zur anbrechenden Neuzeit.
 
Dr. Ulrich Rudnick
 
 
Flasch, Kurt: Einführung in die Philosophie des Mittelalters. Darmstadt 31994.
 
Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 3: Renaissance und frühe Neuzeit, herausgegeben von Stephan Otto. Neudruck Stuttgart 1994.
 Jaspers, Karl: Nikolaus Cusanus. Neuausgabe München u. a. 1987.

Universal-Lexikon. 2012.

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